Kapitel 21


Arbeitszeit und Lebenszeit

Die Bedeutung der Messgröße Zeit für den sozioökonomischen Berichtsansatz ergibt sich daraus, dass diese alle Lebensbereiche umschließt: die Arbeit im Beruf und im Haushalt, die Freizeit, das Familienleben usw. In der Forschung über soziale Zeit (z.B. in Untersuchungen über Arbeitszeit, Freizeit, Familie, Lebenslauf usw.) werden die einzelnen Felder integriert. Die Soziologie der Zeit sucht nach übergreifenden Mustern des gesellschaftlichen und individuellen Umgangs mit Zeit.

Theoretische Grundlage für Analyse der Zeitverwendung sind u.a. der Forschungsstand zur alltäglichen Lebensführung sowie ökonomische und soziologische Theorien der Zeitverteilung, -verwendung und der Zeitsouveränität. Unter Zeitkultur sind Zeitvorstellungen, -werte und -normen zu verstehen, die auf materielle Bedingungen der Zeitgestaltung reagieren und diese beeinflussen. Als Zeitstruktur bezeichnet die aktuelle soziologische Zeitforschung einerseits institutionelle Vorgaben für die Zeitverwendung (zeitliche Regulierungsmuster) und andererseits strukturierende Meso- oder Makromuster der Zeitverwendung (z.B. kommunale oder nationale Zeitstrukturen). Zeitsouveränität meint (nach Terriet) die individuelle Möglichkeit zur quantitativen und qualitativen Selbstbestimmung der eigenen Zeitstrukturen im gesamten Lebenszusammenhang.

Zeitverwendung der Gesamtbevölkerung

Input-Output-Tabellen in Zeiteinheiten können als ein Bilanzierungskonzept für die Zeitverwendung der Gesamtbevölkerung verwendet werden, das C. Stahmer im Statistischen Bundesamt als eine der drei Säulen sozioökonomischer Berichterstattung entwickelt hat. Eine Darstellung in dieser Form soll anhand der empfangenen und geleisteten Zeiten verschiedener Altersgruppen nach Aktivitäten die Größenordnungen zu zeigen, in denen sich Zeit auf berufliche und nichtberufliche Aktivitäten (persönliche Aktivitäten, eigene Qualifikation, hauswirtschaftliche und handwerkliche Tätigkeiten, Kinderbetreuung, Pflege Erwachsener) verteilt.

Arbeitszeitregime

Die Arbeitszeit ist der zentrale Zeit- oder Taktgeber des sozialen Lebens in modernen Arbeitsgesellschaften: Die wichtigsten Zeitinstitutionen wurden durch die Standardisierung des Arbeitstags, der Arbeitswoche, des Arbeitsjahrs und des Arbeitslebens hervorgebracht. Die Beobachtung der teilweise grundlegenden Veränderungen im deutschen Arbeitszeitregime bei der Regulierung von Arbeitszeitdauer und -lage sowie in der Regulierungsform ist daher ein zentraler Gegenstand. Darüber hinaus ist nach den Bedingungsfaktoren bzw. den „treibenden Kräften“ dieser Veränderungen der Zeitstruktur zu fragen.

  • Arbeitszeit wird wohlfahrtstaatlich reguliert: Neben dem unmittelbaren Regelungskatalog für die Länge, Lage und Verteilung der Arbeitszeit sowie der Betriebszeiten sollen auch Öffnungsklauseln in Tarifverträgen, Regelungen zu Projektarbeit, Zielvereinbarungen etc. sowie Veränderungen der Ladenschlusszeiten, Förderung von Teilzeitverhältnissen und Minijobs etc. berücksichtigt werden. Diese Regelungen liefern den gesetzlichen und regulativen Rahmen, in dem sich die Arbeitszeit bewegen kann.
  • Neben der Regulierung steht die Beobachtung der faktischen Arbeitszeitstrukturen, insbesondere der prägenden Faktoren von Normalarbeitszeit im Vordergrund. In diesem Zusammenhang soll der Erkenntniswert einer Typisierung von flexiblen Arbeitszeiten kritisch geprüft werden. Mögliche Typisierungsmerkmale sind die Länge der Arbeitszeit, ihre Verteilung innerhalb des Tages, der Woche und des Jahres sowie der Grad der Einflussnahme bzw. Kontrolle durch Beschäftigte und Vorgesetzte (Überstundenregelungen, Begrenzungen durch Korridore, mögliche materielle Auswirkungen, Beschäftigungswirksamkeit).
  • Ein weiteres Beobachtungsfeld ergibt sich aus dem Trend zu sich polarisierenden und differenzierten Arbeitszeiten. Insbesondere entlang der Achsen Geschlecht, Qualifikation und Nationalität differenzieren sich Arbeitszeiten aus; zusätzlich sind Differenzierungen auch innerhalb dieser Gruppen zu untersuchen.
  • Die zunehmende Ausdifferenzierung zwischen vertraglichen, tatsächlichen und gewünschten Arbeitszeiten, die bereits im ersten Bericht behandelt wurde, soll fortgeschrieben und auch auf die Erwerbsarrangements von Haushalten bezogen werden.
  • Bei der Nutzung der Arbeitszeit mehren sich die Hinweise auf eine Intensivierung, d.h. dass mehr in gleicher Zeit geleistet wird. Dies auf den verschiedenen Makro-, Meso- und Mikroebenen zu beobachten und geeignete Indikatoren für die Berichterstattung über Arbeitsintensität zu entwickeln, ist eine Aufgabe des Kapitels. Neben gesamtwirtschaftlichen (Arbeitsproduktivität) oder branchenspezifischen Kennzahlen (z.B. Umsatz- oder Flächenproduktivität im Handel) sind auch betriebliche Untersuchungen und Messungen von subjektiver Wahrnehmung der Arbeitsintensität hinzuzuziehen bzw. miteinander zu kontrastieren.

Zeitverwendung im Haushaltskontext

Die Beobachtung der Zeitverwendung im Haushalts- und Familienkontext knüpft an die Entwicklung von Erwerbsarbeitszeiten an. Im Mittelpunkt stehen nun jedoch nicht primär individuelle Erwerbsarbeitszeiten, sondern die Erwerbsarrangements, die im Haushalts- bzw. Familienkontext ausgehandelt und gestaltet werden.

Dabei interessieren zunächst die Bedingungsfaktoren der Lebensweise, die zum Gelingen stabiler und subjektiv gewünschter Arrangements beitragen. Erwerbsarrangements sind das Ergebnis von komplexen Aushandlungsprozessen. Sie werden flankiert durch formelle und informelle Settings (z.B. verwandtschaftliche oder nachbarschaftliche Netzwerke, Betreuungsinstitutionen etc). Diese und andere Bedingungsfaktoren für das Gelingen zu ermitteln, ist Ziel dieses Kapitels.

Weiter soll der Einfluss der im Haushalts bzw. Familienkontext realisierten Erwerbsarrangements auf die nicht­erwerbsgebundene Zeitverwendung ermittelt werden. Hier werden die Zeit- und Aktivitätsmuster von Paaren in den Blick genommen, um z.B. den Einfluss der Partner-Erwerbstätigkeit auf die Hausarbeitszeit, auf Betreuungs- und auf frei verfügbare Zeiten zu ermitteln.

Schließlich soll die realisierte Zeitverwendung mit den subjektiven Wünschen kontrastiert werden. Es wird davon ausgegangen, dass die individuellen Zeitpräferenzen und die realisierten Muster der Zeitverwendung unter den bestehenden Macht- und Herrschaftsverhältnisse immer überlagert sind durch Einkommenszwänge und familiäre Verpflichtungen. Sie sind nicht losgelöst von sozialer und geschlechtsspezifischer Ungleichheit zu denken. Vor diesem Hintergrund sind die realisierten Zeit- und Aktivitätsmuster nicht zwingend die gewünschten. Auch können Zeitnot und fehlende Zeitautonomie Belastungsfaktoren darstellen, die die Möglichkeiten der gesellschaftlichen Teilhabe beeinträchtigen. Diese Wünsche und Belastungen in Bezug auf die Zeitverwendung zu ermitteln ist ebenfalls Aufgabe dieses Kapitels.