Präsentation von Ergebnissen des Forschungsverbunds am 13. November 2009

Am 13. November 2009 präsentierte der Forschungsverbund Sozioökonomische Berichterstattung (soeb.de) in der Humboldt-Universität Berlin Ergebnisse seines Zweiten Berichts und stellte sie zur Diskussion. Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus Wissenschaft, Datenproduktion und Öffentlichkeit diskutierten in drei Panels die vom Forschungsverbund präsentierten Befunde zu den makroökonomischen Bedingungen von Teilhabe, den veränderten Teilhabemodi und den politischen Gestaltungsmöglichkeiten unter den Bedingungen demografischen Wandels.

In ihrem Eröffnungsbeitrag erklärte Frau Dr. Willms-Herget, Leiterin des Referats Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften im Bundesministerium für Bildung und Forschung, sie erhoffe sich von den geplanten Werkstattgesprächen für einen Dritten Bericht wichtige inhaltliche Impulse zu einem neuen Rahmenprogramm "Forschung für gesellschaftliche Innovationen", das im BMBF in Vorbereitung ist. Sie lud die sozialwissenschaftliche Öffentlichkeit zur Beteiligung an dieser Diskussionsphase ein.

Teilhabe im Umbruch - Ergebnisse aus soeb 2

Die Perspektive des Forschungsverbundes Sozioökonomische Berichterstattung verbindet die Analyse der Transformationen des deutschen Kapitalismusmodells mit der Frage, welche Auswirkungen sie auf Teilhabechancen und -formen von Individuen und Haushalten hat. Teilhabe konkretisiert sich in der Teilhabe an Erwernbsarbeit, an sozialen Nahbeziehungen, an bürgerlichen, politischen und sozialen Rechten und in der teilhabe an Bildung und Kultur. Für soeb erfüllt das Teilhabe-Konzept erstens die Funktion eines individuellen Wohlfahrtsmaßes, das dem Individualisierungsgrad der gesellschaft angemessen ist, indem es Teilhabechancen und realisierte Teilhabe in den Blick nimmt. Mit der Betrachtung kollektiver Teilhabemuster wird der Begriff zweitens im Rahmen der Sozialstrukturanalyse anschlussfähig.

Panel 1: Nach dem Rheinischen Kapitalismus?

Das "alte", fordistische Modell des Kapitalismus, dessen deutsche Ausprägung als "Rheinischer Kapitalismus" beteiligt wurde, nutzte die steigende Arbeitsproduktivität als zentrale Entwicklungsressource. Mit der Kopplung von Produktivitäts- und Lohnzuwächsen wurde erstmals die Teilhabe breiter Bevölkerungsschichten an einem über die Reproduktion der Arbeitskraft hinausgehenden Konsum und einer generellen Verbesserung der Lebensverhältnisse erreicht. So entstand in allen entwickelten Industrieländern eine Form des "Teilhabekapitalismus" in jeweils länderspezifischer Ausprägung.

Bereits in den 1970er Jahren wurden die Grenzen dieses Entwicklungsmodells deutlich, die schließlich als ökonomische Krise und als Legitimationskrise in Erscheinung traten. Als zentrale Krisenursache kann aus Sicht von soeb2 das Erreichen von Tragfähigkeitsgrenzen bei der Nutzung natürlicher Ressourcen bzw. eine ungenügende Ressourceneffizienz angesehen werden. Die Ressourceneffizienz blieb bis in die 1980er Jahre deutlich hinter dem Wachstum der Produktivität zurück.

Ressourceneffizienz

Steigt die Ressourceneffizienz langsamer als die Arbeitsproduktivität, so wachsen negative Skaleneffekte exponentiell an - mit der Folge, dass die Ressourcen wirtschaftlicher entwicklung abnehmen und die Produktion kaum noch steigt. Für diesen Zusammenhang war die fordistische Regulation jedoch blind.

Dementsprechend setzten die Strategien zur Bewältigung der Krise nicht an der Problematik der Ressourceneffizienz an, sondern versuchten den Umbruch durch auf Stabilisierung und Umverteilung gerichtete Anpassungen letztlich zu vermeiden. Auf nationaler Ebene wurde versucht, Wachstumsdefizite und Einkommensprobleme durch – zum Teil widersprüchliche – Umverteilungsstrategien zu lösen: Dabei wurden die produktivitätsorientierte Lohnentwicklung und die Kopplung der Sozialtransfers an die Produktivität suspendiert und insgesamt der Druck auf Beschäftigte wie Erwerbslose erhöht. Internationale Krisenbewältigungsstrategien lassen sich als Umstellung auf einen Wettbewerbsstaat mit gezieltem Aufbau bzw. Nutzung von Standortdifferenzen beschreiben. Mit der Abkopplung der Kapitalverwertung von der Finanzkapitalverwertung und der Unterordnung der wirtschaftlichen Entwicklung unter das Finanzkapital kam schließlich eine ökonomische Dynamik in Gang, die in der finanzmarktinduzierten Wirtschaftskrise mündete.

Die Entstehung eines neuen Regimes wirtschaftlicher Entwicklung, das eine ebenso breite gesellschaftliche Teilhabe ermöglicht wie im Fordismus, dabei jedoch individualisierte Teilhabechancen eröffnet, setzt weiterhin wirtschaftliches Wachstum voraus, das aber auf einer wachsenden und umweltkompatiblen Ressourceneffizienz als wesentlicher Quelle wirtschaftlicher Entwicklung basieren müsste.

Panel 2: Sozial ist, was Arbeit schafft? Teilhabemuster im Umbruch und neue Unsicherheiten

Auch nach dem Umbruch wird gesellschaftliche Teilhabe maßgeblich durch Erwerbsbeteiligung realisiert. Die dabei stattfindenden Veränderungen werden durch die Beobachtung einer steigenden Sockelarbeitslosigkeit oder der Zunahme atypischer Beschäftigung aber nicht ausreichend erfasst. Erst in einer Längsschnittbetrachtung zeigt sich die abnehmende soziale Bedeutung des fordistischen Normalarbeitsverhältnisses (existenzsichernde, kontinuierliche Vollzeitbeschäftigung):

Auf der Ebene individueller Lebensverläufe werden die klassischen Muster fordistischer Erwerbsintegration seltener. Das für Männer charakteristische Muster von Vollzeitbeschäftigung – typischerweise ohne Unterbrechungen durch Arbeitslosigkeit oder Familienarbeit – nimmt ab, bleibt aber auf niedrigerem Niveau vorherrschend für Männer in West- und Ostdeutschland. Das komplementäre Muster weiblicher Famiienarbeit – mit nur kurzen Phasen von Erwerbsarbeit, die nur selten in Form von Vollzeitbeschäftigung auftritt – verliert bei westdeutschen Frauen sehr stark an Bedeutung, für ostdeutsche Frauen war es nie typisch. Für west- und ostdeutsche Frauen nimmt nun jedoch das Zuverdienstmodell – relativ kontinuierliche Teilzeitarbeit, unterbrochen von kürzeren Familienarbeitsphasen – zu, so dass sich die Erwerbsverläufe ost- und westdeutscher Frauen angleichen.

Jenseits der Veränderung der klassischen fordistischen Muster ist insbesondere in Ostdeutschland eine deutliche Zunahme bei prekären Verläufen zu beobachten – mit geringer Kontinuität der Beschäftigung, hohen Anteilen von Zeiten ohne Beschäftigung bzw. Arbeitslosigkeit. Dieser Befund zeigt sich auch auf der Makroebene des Erwerbssystems: Hier sind „Zonen der Erwerbsteilhabe“ entstanden, die von stabiler Vollzeitbeschäftigung bis zum dauerhaften Ausschluss von Erwerbsarbeit variieren.

Panel 3: Bevölkerungspolitik oder Gesellschaftspolitik? Demografischer Trendbruch und wirtschaftliche und soziale Gestaltungsspielräume

Die demografische Entwicklung, für die eine Abnahme sowohl der Bevölkerung als auch des Erwerbspersonenpotenzials prognostiziert werden, erscheint im politischen Diskurs häufig als absolute Begrenzung sozioökonomischer Entwicklungsmöglichkeiten. Doch demografische Entwicklungen wirken nicht unmittelbar auf den Arbeitsmarkt, sondern vermittelt über gesellschaftliche Strukturen und über das Verhalten von Unternehmen, Haushalten, Staat und Verbänden. Und diese Vermittlungen sind politisch gestaltbar.

Als Grundlage für die Diskussion solcher Wirkungszusammenhänge modellierte die Gesellschaft für wirtschaftliche Strukturforschung (GWS) auf der Grundlage ihres Makromodells INFORGE/DEMOS Angebots-Nachfrage-Relationen des Arbeitsmarkts bis 2020. Dabei wird die Nachfrage nach Erwerbsarbeit als endogene Größe modelliert, das Arbeitsangebot als exogen.

Zentraler Befund der Modellierung ist, dass es bis 2020 keine demografische, aber sehr wohl eine qualifikatorische Lücke am Arbeitsmarkt geben wird. Diese entsteht durch einen deutlichen Mismatch bei den höheren Qualifikationen. Dagegen übersteigt bis zum Ende des Modellierungszeitraums das Angebot an geringen und mittleren Qualifikationen noch immer die Nachfrage. Wie ließe sich diese qualifikatorische Lücke schließen?

Dazu wurden alternative Entwicklungsszenarios modelliert, die Bildungsbeteiligung, eine Ausweitung des Erwerbspersonenpotenzials durch erhöhte Erwerbsbeteiligung von Frauen und eine verlängerte Erwerbsintegration Älterer variieren. Die Ergebnisse zeigen, dass eine Bildungsexpansion, wie sie die EU-Benchmarks definieren, die stärksten positiven Effekte hätte. Bei einer Fortschreibung der derzeitigen Bildungsbeteiligung erscheint es jedoch unmöglich, dass diese Ziele erreicht werden. Auch die wachsende Erwerbsbeteiligung von Frauen reicht bei Fortschreibung derzeitiger Trends nicht aus: Zum einen schränkt die Betreuung von Kindern nach wie vor die Erwerbsarbeit von Frauen stark ein, zum anderen wäre eine Zunahme vor allem bei mittleren Qualifikation zu erwarten. Bei den Altersübergängen schließlich kann nicht eine gleichmäßige Ausweitung der Lebensarbeitszeit, sondern eine Ausdifferenzierung von Übergangsmustern beobachtet werden: Über die Kohortenfolge sinkt zwar der Zeitanteil in Vollzeitbeschäftigung und in Nichterwerbstätigkeit, während Zeitanteile in Arbeitslosigkeit zunehmen. Dabei gibt es jedoch deutliche Unterschiede zwischen den Geschlechtern und nach Bildungsabschlüssen.

Offene Fragen

Aus den Diskussionen innerhalb der drei Panels lassen sich Themen identifizieren, die für eine Fortsetzung der Sozioökonomischen Berichterstattung weiter bearbeitet werden sollten:

  • Der Teilhabebegriff erscheint noch nicht ausreichend ausgearbeitet. Sowohl sein Zusammenhang mit dem Capability Approach von Sen wie auch seine Ursprünge in der politischen Theorie und seine Anschlussfähigkeit an bestehende Ansätze (z.B. Dynamik von Armut) sollten stärker inhaltlich diskutiert werden.- Die ökologischen Implikationen des Umbruchs werden aus Sicht der Diskussionsteilnehmer/innen nicht ausreichend berücksichtigt. Dies betrifft so unterschiedliche Probleme wie die mangelnde Nachhaltigkeit und Ressourcenschonung der Produktion oder die Schwierigkeit, unter prekären Bedingungen eine nachhaltige Lebensweise zu entwickeln.
  • Eng damit verbunden ist die Frage, wie Wohlfahrt gemessen werden kann. Dazu muss nicht nur der Teilhabebegriff weiterentwickelt werden, sondern auch Fragen der sozialen und ökologischen Nachhaltigkeit müssen systematisch einbezogen werden.
  • Schließlich wurde eine Überbewertung der Erwerbsarbeit für Teilhabe kritisch bewertet. Teilhabe ausschließlich über Erwerbsarbeit zu definieren, beinhaltet die Gefahr der vollständigen Kommodifizierung, deren Folgen für Individuum und Gesellschaft stärker diskutiert werden sollten. Sozioökonomische Berichterstattung sollte deshalb künftig stärker Teilhabechancen und –formen jenseits der Erwerbsarbeit berücksichtigen.
  • Die Problematik, wie Diskontinuitäten der Erwerbsbeteiligung zu bewerten sind, erscheint noch nicht ausreichend gelöst. Hier müssten sowohl subjektive Faktoren als auch institutionelle Einflüsse stärker berücksichtigt werden.
  • Vor allem hinsichtlich der Erforschung von Ausgrenzung aus Erwerbsarbeit besteht ein Datenproblem, da Personen ohne Meldezeiten nicht in der amtlichen Statistik erscheinen (können). Darüber hinaus ist die amtliche Statistik heutigen Fragestellungen vielfach nicht ausreichend angepasst. Die Nachfrage aus der Forschung sollte deutlicher formuliert werden.
  • Bei der Entwicklung von neuen Indikatoren sollte die Anschlussfähigkeit an bestehende Indikatoren geprüft werden (z.B. Laeken-Indikatoren).
  • Qualitative Ansätze sollten generell stärker in die Berichterstattung einbezogen werden, da die (Nicht-)Verwirklichung von Teilhabechancen allein quantitativ nicht erklärt werden kann.

Dokumente und Vortragsfolien:

  • Rainer Land: Der Teilhabekapitalismus und sein Ende (Panel 1) [PDF]
  • Sabine Fromm: Sozial ist, was Arbeit schafft? (Panel 2) [PDF]
  • Peter Bartelheimer: Eine demografische Lücke am Arbeitsmarkt? (Panel 3) [PDF]