Projektinhalt

Soziologie: Soziologisches Forschunginstitut (SOFI)

Qualitative empirische Untersuchungen in der (arbeits-)soziologischen Forschung führen aufgrund ihrer Anlage meist zu gegenwartsbezogenen Momentaufnahmen. Gleichzeitig bietet die vergleichsweise hohe methodische und inhaltliche Kontinuität der SOFI-Betriebsfallstudien, die schon immanent in einer gewissen Spannung zu dieser Gegenwartsbezogenheit steht, einen vielversprechenden Ansatz für sekundäranalytische Forschungen. Dies gilt zum Beispiel für jene Linie, die mit „Industriearbeit und Arbeiterbewusstsein“ (1970) begann.  Standen zunächst die sozialen und qualifikatorischen Wirkungen der Automation im Mittelpunkt, so rückten in den 1970er Jahren Fragestellungen wie jene nach den Möglichkeiten einer „Humanisierung der Arbeit“, nach der „Subjektperspektive“ von Arbeitenden oder den konkreten, branchen- und arbeitsplatzbezogenen Auswirkungen einer stärkeren Kontrolle des Managements über den Arbeitsprozess in den Vordergrund. Im Anschluss an die Studie „Das Ende der Arbeitsteilung?“ (1984) wurden diese Fragen schließlich mit einem Fokus auf Veränderungen von Arbeitsorganisation durch „Neue Produktionskonzepte“ untersucht, wobei die Team- und Gruppenarbeit in der großen Industrie besondere Aufmerksamkeit fand. Dieses Material dürfte in seiner Vielgestaltigkeit und doch kontinuierlichen methodischen Reflektiertheit Aussagen über ein Kapitel der Geschichte der Arbeitsbeziehungen in der Bundesrepublik erlauben, in dem sich die „Konturen der Arbeitswelt“ sehr weitgehend verändert haben. Dies gilt umso mehr, wenn die analytischen Grenzen einer arbeitssoziologischen Momentaufnahme systematisch weiter relativiert werden, indem man sekundäranalytisch die Primärstudien in eine Längsschnittperspektive integriert. Auf diesem Wege dürften, so unsere Vermutung, aktuelle Debatten der bundesdeutschen und internationalen Arbeitssoziologie und der zeitgeschichtlichen Forschung in ein neues Licht gerückt werden. Das Potential systematischer Sekundäranalysen lässt sich darüber hinaus nur erahnen, wenn man bedenkt, dass die eben geschilderten Projekte nur eine einzige Forschungslinie des SOFI repräsentieren. Insgesamt umfassen SOFI-Betriebsfallstudien einen Zeitraum von mittlerweile über 40 Jahren und enthalten tausende Expertengespräche mit Vertreterinnen und Vertretern des Managements und der Beschäftigten sowie Interviews mit den Arbeitenden selbst, die in „multiperspektivischen“  Erhebungen mit Arbeitsplatzbeobachtungen und Kontextanalysen verbunden wurden.

Im Rahmen des soziologischen Teilprojektes werden zwei sekundäranalytische Fragestellungen verfolgt:

  • „Subjektivierung von Arbeit – (erst) nach dem Boom?“. In dieser arbeitssoziologischen Untersuchung steht die Frage nach der Veränderung der Subjektperspektive der Arbeitenden in der großen Industrie seit den 1970er Jahren im Zentrum. Sie erscheint gerade deshalb interessant, weil die „Subjektivierung“ und „Entgrenzung“ von Arbeit heute häufig als Besonderheit einer neuen Dienstleistungsarbeit gefasst werden. Damit wird eine der Wurzeln des „Strukturbruchs“ ignoriert, die gerade in den SOFI-Studien eine große Rolle gespielt hat. Denn die Debatte um das Wissen und die alltägliche informelle Kooperation von IndustriearbeiterInnen stand zwischen 1970 und mindestens 1990 noch im Mittelpunkt nicht alleine der industriesoziologischen, sondern auch der arbeitspolitischen Debatte in der Bundesrepublik. Die einzigartige Textur, die sich in den SOFI-Betriebsfallstudien aufgrund des multiperspektivischen Blicks auf sehr unterschiedliche zeitgenössische Arbeits- und Rationalisierungsprozesse findet, ermöglicht hier eine erneuerte Reflektion der konfligierenden Interessen und der (in der Wahrnehmung der Arbeitenden) ambivalenten Herausforderungen, die mit der steigenden Bedeutung von „Selbstorganisation“ und „Autonomie“ in den Praktiken des betrieblichen und überbetrieblichen Managements von Industriebetrieben seit den 1970er Jahren verbunden waren und sind. Die erneute Befassung mit dem Primärmaterial soll dabei gewährleisten, dass nicht alleine jene „Reste“ des Materials neu ausgewertet werden, die in Publikationen und Rezeption keine Rolle gespielt haben, sondern auch zu unterschiedlichen (historischen) Zeiten erhobene Daten im Rahmen einer Längsschnittperspektive ex post neu verknüpft werden. Ziel ist es, anhand der Re-Analyse exemplarischer SOFI-Betriebsfallstudien eine kritische Reflektion der Ambivalenzen heutiger Prozesse von „Subjektivierung“ und „Entgrenzung“ zu ermöglichen. 
  • Die zweite arbeitssoziologische Untersuchung („Gute Arbeit“ als Alltagspraxis – Aneignung der Arbeitssituation in der Interessenperspektive von Industriearbeiter/innen) adressiert zudem die Frage, wie sich die durch Rationalisierungsprozesse verursachten Konflikte und Ambivalenzen sowie die (polarisierende) Veränderung von Qualifikationsanforderungen und Arbeitsnormen auf die Potentiale von Solidarisierung und (gewerkschaftlicher) Organisierung von Arbeitenden ausgewirkt haben.


Ein solches Pilotprojekt zur Sekundäranalyse qualitativer Daten stellt zweifellos hohe Ansprüche an die Aufbereitung und inhaltliche Erschließung des Primärmaterials. Insofern haben die skizzierten sekundäranalytischen Vorhaben nicht nur einen jeweils fachwissenschaftlichen Auftrag, sondern stehen darüber hinaus vor der Aufgabe, an der Entwicklung IT-basierter Instrumente mitzuwirken, die diesen Zielen dienen. Es wird nicht zuletzt von der Leistungsfähigkeit dieser Instrumente abhängen, inwiefern das skizzierte Pilotprojekt einer breiteren Forschungspraxis den Weg bereiten kann, die über die SOFI-Bestände und letztlich über die arbeitssoziologische Disziplin hinausweist.