Projektinhalt

Sozialstaatliche Politik wirkt auf die Klassenstrukturen moderner Gesellschaften ein und ist zugleich Ergebnis von politisch mobilisierten Klassenkoalitionen sowie (Klassen-) Kräfteverhältnissen.

Das konservativ-liberale Sozialstaatsprojekt, das seit spätestens Mitte der 1980er-Jahre langsam durchgesetzt wurde, stärkte den Warencharakter der Arbeitskraft (Re-Kommodifizierung), privatisierte bzw. vermarktlichte wichtige staatliche Infrastrukturdienstleistungen, „deregulierte“ Arbeitsmärkte und wurde durch eine Ideologie der Eigenverant-wortung sowie Marktstärkung unterfüttert.

Ob dementgegen eine demokratische und soziale Erneuerung des Sozialstaates gelingen kann, hängt davon ab, ob dafür klassenpolitische Voraussetzungen entstehen. Dazu gehören insbesondere das Sozialstaats- und Arbeitsbewusstsein.

Im Fokus des Projektes steht die Frage: Welche klassenspezifischen Interessen und Forderungen, insbesondere aber auch sozialmoralische Ansprüche an Sozialstaatlichkeit und Erwerbsarbeit (Moralische Ökonomie) finden sich also bei Angehörigen verschiedener Fraktionen der arbeitenden Klasse? Bieten sie Anknüpfungspunkte für eine verbindende, sozialstaatserneuernde und transformierende Klassenpolitik?

Diese Frage ist wichtig, weil sich die Zusammensetzung der arbeitenden Klasse langfristig deutlich verändert hat. „Sozialstaatliche Politiken der Prekarisierung“ spielten dabei eine zentrale Rolle. Entsprechend unterschiedlich könnten, so die Ausgangsthese, aufgrund unterschiedlicher Betroffenheit von Prekarisierung bzw. unterschiedlich ausgeprägter Arbeitsmarktmacht, aufgrund unterschiedlicher Arbeitserfahrungen und Qualifikationsanforderungen der Beschäftigten auch die Interessen von Arbeitenden und deren Ansprüche an eine erneuerte Sozialstaatlichkeit sein.

Untersucht wird, welche „ideologisch-politischen Ressourcen“ für die Erneuerung und Transformation des Sozialstaates sich innerhalb der sozialen Deutungsmuster finden, mit deren Hilfe Beschäftigte ihre Arbeits- und Lebenssituation verarbeiten. Wenn es nun zutrifft, dass Politiken der Prekarisierung Sozialstaat und Arbeitswelt in Deutschland grundlegend verändert haben, ist es von zentraler Bedeutung, wie sich dies auf die sozialmoralischen Haltungen derjenigen auswirkt, die in besonderem Maße davon betroffen sind: Reflektiert die „moralische Ökonomie“ von Beschäftigten in Branchen, die man aus unterschiedlichen Gründen und in unterschiedlichem Maße als prekarisiert bezeichnen kann, die zunehmende Fragmentierung von Arbeit, Beschäftigung und sozialer Sicherung, welche durch Prekarisierung ausgelöst wird? Oder gibt es selbst unter den dort Beschäftigten Verbindendes, etwa in den „Sozialstaats“- und Gesellschaftsbildern, was es möglich machen würde, sie für einen demokratischeren und sozialeren Sozialstaat des 21. Jahrhunderts zu mobilisieren?

Die Studie baut auf die etablierte sozialpolitische, stark quantitativ ausgerichtete Einstellungsforschung auf, geht aber drei neue Wege: 

  • Mit Hilfe des qualitativen Deutungsmusteransatzes werden erstens sozialstaats- und erwerbsarbeitsbezogene Interessenorientierungen, Gerechtigkeits- und Ordnungsvorstellungen, Sozialstaats- und Gesellschaftsbilder, Konturen der Solidargemeinschaft, auf die sich die Befragten beziehen, und politische Handlungsorientierungen in ihrem komplexen Zusammenhang und möglichen Widersprüchlichkeiten analysiert.
  • Zweitens werden nicht Schichten und Berufsgruppen, sondern jene Teile der arbeitenden Klasse untersucht, die in besonders, aber in unterschiedlichem Maße prekarisierten Branchen tätig sind und für die die Frage im Raum steht, ob man es hier mit einer Klassenfraktion im Werden zu tun hat.
  • Drittens werden Sozialstaatsorientierungen im Zusammenhang mit Erwerbsarbeitsorientierungen und betrieblichen Aushandlungskonflikten analysiert.